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18.08.2013 | Sonntag | Ökosex

Deutsches Parteiensystem besser als deutsche Radwege

Nix Wahlenthaltung: Wer bessere Radwege möchte, sollte unbedingt zur Bundestagswahl gehen

 

Erst die gute Nachricht: der Sommer war und ist dufte. Ich genoss ihn im Urlaub in vollen Zügen quer durch Europa mit einer Interrailkarte und war mal eben droben in Skandinavien. Ich wollte nämlich in Kopenhagen die viel gelobte Radinfrastruktur testen. Nach zwei Tagen auf dem Sattel muss ich zugeben: selbst aus niederländischer Perspektive ist radeln auf Dänisch toppi. Und so einfach zu kopieren: auf großen Straßen nimmt man einfach die Hälfte der Autospuren. Das ergibt eine Radspur auf jeder Seite von mehr als zwei Meter, die baulich schön abgesetzt wird. 2.20 m sind so schön breit, dass wir bequem zu zweit nebeneinander fahren und gemütlich quatschen konnten. Und für kleinere Straßen hat man entweder farbige breite Spuren oder eben Tempolimit und “shared Space”. Es gibt sogar in den Vororten richtige Schnellstraßen mit grüner Welle. Da muss jeder Berliner blass vor Neid werden.

Übrigens gibt es ein interessantes  Modephänomen. Anders als wir Leichtmatrosen in NL, fahren die Dänen auch im Alltag mit Helm. Allerdings nicht wie die Deutschen mit dem etwas albernen, oft kritisierten Rennraddesign, sondern wirklich alle mit Teilen, die aussehen wie Skateboardhelme. Fand mein Sohn cool. Auch haben alle Dänen – wirklich alle - so ein blinkendes Induktionslicht, weder mit Batterie noch mit Dynamo. Das wiederum ist nicht nur cool, sondern auch smart, weil diese Lichter sehr zuverlässig sind. Könnte auch ein Trend für Berlin sein. Lustig finde ich, wie konform sich individualistische Menschen im jeweiligen Fahrrad-Habitat anpassen. Ich fahre in Maastricht - um als Deutscher nicht aufzufallen - ohne Helm, mit Batterielicht und Satteltasche! Satteltaschen sind übrigens tierisch im Kommen.

Andrea Reidl hat mich in ihrem schönen Velophil-Blog in der ZEIT auf die Seite von copenhagenize.eu aufmerksam gemacht. Da wird ausführlich beschrieben, welche Bedingungen Stadtplaner bei der Radinfrastruktur beachten müssen, um mehr Kopenhagen zu wagen. Die Lektüre sollte in Hamburg und Berlin verpflichtend sein. Erstaunt war ich nämlich als ich am Ende meiner Tour noch ein bisschen in Hamburg weilte. Ja, auch der Hanseat fährt gerne Rad. Richtig Spaß macht das aber nicht überall. Dort sah ich noch regelmäßig den deutschen Klassiker: ein schmaler, auf den Gehweg hingemurkster Radweg mit schlechtem Belag, der an der Kreuzung im gefährlichen Abbiege-Nirvana endet.

Womit wir bei der deutschen Bundestagswahl wären. Fahren uns nicht alle Parteien gleichermaßen ins Abbiege-Nirvana des Postkapitalismus? Es ist ein erfreuliches Zeichen der politischen Kultur, dass gelangweilte Intellektuelle wie Harald Welzer, Georg Diez und andere meinen, man brauche gar nicht mehr wählen gehen, weil “alle Parteien ja so gleich seien”. Da gäbe es ja keine Postwachstums oder postkapitalistische Alternative, nirgends. Ich meine, es geht auch eine Reifennummer kleiner. Die Parteien unterscheiden sich heftig, beispielsweise in Sachen Fahrradstadt und Radwegeinfrastruktur. Wer sich für Verkehrspolitik interessiert, sieht hier lokal und national sehr wohl große Unterschiede. Gleiches gilt für die Feinheiten der Energiepolitik, in Sachen Landwirtschaft und Fleischkonsum und beim Umgang mit Asylbewerbern. Parteien unterscheiden sich sehr wohl.

Lustiger weise sind Enthaltungsbefürworter erstaunlich milde mit Politikern der Vergangenheit. Motto: früher waren Parteien und Politiker noch viel schärfer und problemorientierter, da lohnte sich noch der Weg zur Urne. Da lachen ja die Hühner. Als ob das Personal der Parteien heute so viel schlechter sei. Und die gegenwärtige Großkrise? Natürlich sind die aktuellen Probleme immer die Epochalsten. Das war aber vor 30 Jahren auch schon so. Immerhin gab es eine Zeit, da waren Atomkriege noch wahrscheinlicher als Minister auf einem Fahrrad. Meine These: Parteiprogramme werden der Bedrohungslage heute so wenig gerecht, wie in den letzten Jahrzehnten. Noch eine steilere These: die deutschen Parteien sind gar nicht schlecht beieinander. Es klingt für Deutsche in Deutschland vielleicht erstaunlich, aber aus dem Ausland betrachtet, stelle ich fest, dass das deutsche Parteiensystem besser in Schuss ist als die deutschen Radwege.

Erfreulicherweise gibt es nicht wie in anderen EU Ländern grässliche Populisten, die Wahlkämpfe dominieren mit platten Anti-EU (UK), Anti-Moslems (NL), Anti-Rechtsstaat (IT), Anti-Klimaschutz (USA) oder Anti-Deutschland (GR) Kampagnen. Ja, in einigen Fragen sind sich die Parteien einiger als je zuvor und da wird gepflegt über Politik diskutiert: beim Atomausstieg, beim grundsätzlichen Bekenntnis zur EU und dem Euro und in der Familien- und Gesellschaftspolitik. Wenn auch die Eurorettung als solche gesellschaftlich umstrittener ist als es die Parteien widerspiegeln. In anderen Bereichen fehlt es noch an echten, unterscheidbaren Positionen: nein, es gibt noch keine Partei, die das Postwachstum klar formuliert.

Der Umbau der EU zu mehr Demokratie ist auch kaum kontrovers skizziert. Und niemand – auch nicht die Linkspartei – kommt nun mit wirklich radikalen Vorschlägen zur Erlegung des Kapitalismus. Das erstaunt allerdings auch nicht: anders als beim Umbau der Radwege in Hamburg, bleibt hier auch der gesellschaftliche Gegenentwurf unklar. Wo ist denn die Postwachstums-APO? Oder die heftige Bewegung für einen neuen Sozialstaat? Wer zur Wahlenthaltung aus Enttäuschung über die heutigen Parteien aufruft, überschätzt diese. Der Input der großen politischen Richtungswechsel der letzten Jahre kam aus der Gesellschaft. Wer hat denn das Rad und den Radweg neu erfunden? Helmut Schmidt war es sicher nicht. Der war nämlich mal Bürgermeister von Hamburg.

 

MARTIN UNFRIED ÜBER ÖKOSEX

Links zur Kolumne:

blog.zeit.de/fahrrad/


copenhagenize.eu


de.wikipedia.org/wiki/Au%C3%9Ferparlamentarische_Opposition


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