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15.02.2011 | Dienstag | Ökosex

Affirmativer Expertenpessimismus

WAS DIE FANTASIELOSEN SZENARIEN EINER KÜNFTIGEN ENERGIEPOLITIK BIS 2050 MIT SPRECHENDEN SCHAUSPIELERN ZU TUN HABEN

 

Wie bei jedem ordentlichen Intellektuellen liegen natürlich auch bei mir zwei Bücher neben dem Bett. In denen lese ich seit Jahren vor dem Einschlafen. Diese zwei Einschlafbücher sind sehr unterschiedlicher Natur.

Wenn es beispielsweise immer noch zu feucht und zu kalt ist für eine schöne Rennradtour nach Val Dieu und Aubel, dann schlage ich mein Lieblingsbuch Nummer eins auf. Es heißt "Flache Strecken" von Bruno Bousack. Ein Wahnsinnstitel! "Flache Strecken" klingt wie Krieg und Frieden und wäre eigentlich ein passender Titel für einen tiefgründigen Roman. Aber Gott sei dank ist "Flache Strecken" ein Radtourenbuch für Leute, die nicht gerne schwitzen, und Bruno Bousack schwärmt von ebenen Strecken rund um Aachen, Maastricht und Tongeren. Weil Bruno Bousack auch ein Intellektueller ist, hat flach natürlich in diesem Werk auch eine übertragene philosophische Bedeutung. Das Leben ist nämlich steil genug. Das Buch ist im M & M Verlag erschienen, und ich glaube, ich habe vor Jahren 9,95 Euro bezahlt. Es gibt kaum eine bessere Investition.

Jetzt zu meinem zweiten Buch. Wenn ich, wie in den letzten Tagen, nicht einschlafen kann, weil Fritz Vorholz in der Zeit wieder was Gemeines über die Fotovoltaik geschrieben hat, dann greife ich zu Hermann Scheers "Vermächtnis". Da sind Windräder vorne drauf. Es heißt "Der Energethische Imperativ". Am liebsten schlage ich Seite 47 auf und lese immer wieder vergnügt die Passage über den "affirmativen Expertenpessimismus". Wie im Jahre 1878 die größte damalige amerikanische Telekommunikationsgesellschaft über eine neue Erfindung urteilte: "Das Telefon hat zu viele ernsthafte Mängel für ein Kommunikationsmittel". Knapp daneben. 1927 fragte ein großer Studioboss namens Warner in Hollywood: "Wer zur Hölle will die Schauspieler sprechen hören?" Und noch schöner ist der Spruch eines Computerexperten, der 1977 analysierte: "Es gibt keinen Grund für irgendein Individuum, einen Computer zu Hause haben zu wollen." Wussten Sie, dass 1982 der damalige Gigant IBM den Kauf des noch jungen Unternehmens Microsoft ablehnte, weil seine Experten der Meinung waren, die Computerzukunft liege bei den Zentralrechnern? Das war vor nicht mal 30 Jahren.

Aber tatsächlich hatten damals nur wenige Fantasie für etwas, was nicht ins bisherige System passte. Science-Fiction im Jahre 2011, in der mein Bruder in einer Berliner Altbauwohnung sitzt und gleichzeitig mit zwei Laptops, drei iPods und dem neuen iPad beschäftig ist. Fantasie. Deshalb entspannt die abendliche Hermann-Scheer-Lektüre. Was Energieexperten heute sehen, wenn sie Zukunft meinen: gigantische Offshore-Windparks in den Händen großer Konzerne und Großspeicher in Norwegen. Passt gerade noch ins Schema. Aber millionenfach energieproduzierende Häuser und Industriebetriebe, die intelligent Strom oder Wärme speichern und in dezentrale Netze einspeisen? Konsumenten, die in die Produktion abgewandert sind? Jede Garage ein solarer Carport? Jedes Dorf mit Kirchturm und Windrad? Fantastisch: In 30 Jahren bin ich erst 74.

15.02.2011 | Dienstag | taz Nr. 9421 | Seite 14 | 107 Zeilen | tazzwei | KOLUMNE ÖKOSEX VON MARTIN UNFRIED

 

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