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Klimabilanz der taz

15.03.2011 | Dienstag | Ökosex

Abwählen und abschalten

Warum die millionenfache Stromkündigung bei den Atomkonzernen jetzt ein wichtiges Mittel ist.

 

Stuttgart, Schlossplatz, Kundgebung: Ich stehe auf der Bühne und schaue in die riesige Menge. Überall gelbe Fahnen mit der "Nein Danke"-Sonne. Ganz schön viele. Ich hatte mir eigentlich in den Tagen zuvor lustige Gags ausgedacht, wollte wie immer über Atomkonzerne scherzen. Watnknall bei Vattenfall und so. Dann kamen die verschärften Nachrichten aus Japan und die Feierlaune war vorbei.

Sich freuen über die gelungene Menschenkette, während im selben Augenblick vielleicht ein Atomreaktor schmilzt? Eine surreale Vorstellung. ExpertenInnen, die sich jahrelang mit den schlimmsten Szenarien beschäftigten, waren schockiert, dass der Worst Case eintritt.

Als aber dann die ersten Reden kamen und in Stuttgart Tausende "abschalten" riefen, fühlte sich das doch genau richtig an. Dann wusste ich, warum wir da waren: wegen Neckarwestheim, wegen Biblis und all der anderen deutschen Atomkraftwerke. Das Schreien war sogar richtig erholsam. Dann fragte ich die Tausenden, wer noch Strom von Atomkonzernen zu Hause in der Steckdose hatte. Erstaunlich viele waren ehrlich und hoben die Hand.

An alle, die in den nächsten Tagen statt Atomtalkshow gucken etwas Sinnvolles machen wollen: Die Massenkündigung wäre so was. Einfach 100 Bekannte und Verwandte anrufen und zur Atomstromkündigung ermuntern, überreden oder einfach zwingen. Die nächsten Wochen werden entscheidend. Eine echte Massenkündigung bei Eon, RWE, EnBW und Vattenfall und ihren Töchtern wäre ein überzeugendes Zeichen.

Längst ist der Kommunikationskrieg eröffnet und Angela Merkel und Norbert Röttgen machen das ganz gut mit ihrer Wir- überdenken-die-Sicherheit-Strategie. Aber, "böse Opposition", das Thema sei natürlich zu ernst für den Wahlkampf! Diese Lachnummer ist zum Schreien. Aus Pietät bedächtig schweigen, wenn es darum geht, ob ein überzeugter Laufzeitverlängerer Regierungschef in Stuttgart bleibt? Noch genialer meint Röttgen: Wir sollten jetzt die alten Grabenkämpfe vergessen und zu einer ganz neuen gemeinsamen Einschätzung kommen.

Wichtiger wäre es jetzt, die ideologischen Hosen runterzulassen. Und endlich zuzugeben, dass es eben nicht um eine rationale, wissenschaftlich fundierte Einschätzung geht in Sachen Atom. Das war die größte Lüge in der Atomdebatte der letzten Jahrzehnte. Ideologisch waren immer nur die Atomkraftgegner, diese irrationalen Gefühlsmenschen. Dabei müssen die Atomkraftideologen bis heute einiges tun, um ihr Weltbild ins Lot zu kriegen. Sie müssen Kostenkalkulationen eisenhart auf Gegenwart frisieren, ohne Rücksicht auf Folgekosten und ungeklärte Endlagerung. Sie müssen bis heute Gefahren ausschließen wie eine unbändige Natur oder menschliches Versagen.

Am lächerlichsten gaukelt die Physikerin Angela Merkel Rationalität vor. Dabei gibt es keine unideologische Einschätzung der Atomenergie. Also gibt es auch keine neue sachliche, wissenschaftliche Bewertung der Sicherheit der deutschen Reaktoren. Die Bewertung ist politisch, deshalb gehören abwählen und abschalten zusammen.

15.03.2011 | Dienstag | taz Nr. 9445 | Seite 16 | 107 Zeilen | tazzwei | KOLUMNE ÖKOSEX VON MARTIN UNFRIED

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