fairkehr Reise 3/2022 | Zugreisen in Europa Interrail reloaded Interrail wird 50! Unser Autor Martin Unfried machte 1980 seine erste Interrail-Reise mit dem europäischen Zugticket. 42 Jahre später wollte er herausfinden, wie es sich heute anfühlt, mit der Bahn durch Europa zu reisen. ????a! Anscheinend schrieb ein griechischer Schaffner in mein Heft: Athen, in griechischen Buchstaben. Sieht schick aus. Wobei wir schon dabei sind, was früher besser war. Mit dem kleinen Interrail-Heftchen habe ich heute noch etwas für die Ewigkeit bewahrt. Vor Wochen nahm ich es wieder stolz in die Hand. Außen das lustige blaue Interrail-Logo, innen trug man die Verbindungen handschriftlich eint. Das war’s. Damit konnte ich mit meinen Stimpfacher Kumpels einen Monat lang in jeden europäischen Zug einsteigen. Und im Heft meiner ersten Reise 1980 steht eben lapidar drin: Stimpfach–München. München–Athen. Athen–Korinth. So begann damals unser Abenteuer-­Trip quer durch Europa, der in vier Wochen nicht nur auf griechische Inseln, sondern auch nach Ljubljana, Venedig, Genua, Monte Carlo, Nizza, Mar­seille, Paris, Brüssel und Amsterdam führen sollte. Für einen 15-jährigen schwäbischen Buben war das der Hammer. 15? Ja, mein älterer Bruder war dabei und schwäbische Mütter hatten damals noch grenzenloses Vertrauen in die Welt. Für heutige Eltern ein Alptraum: Mutter bekam von uns wenige Lebenszeichen, da wir äußerst selten von irgendeiner Telefonzelle anriefen. Vieles undenkbar heute. In Stimpfach, im Osten der Schwäbischen Alb, hält schon lange kein Zug mehr. Und diese Sehnsuchtszüge, wie der Hellas-Express (Dortmund–Athen) und der Akropolis-Express (München–Athen) fahren auch nicht mehr. Sie wurden um das Jahr 1990 eingestellt. Reisen, wohin die Züge fahren Hochgeschwindigkeit? Die Reise nach Athen dauerte damals rund 40 Stunden im Sechser-Sitzabteil bei 40 Grad im Schatten. Ich weiß gar nicht mehr, ob es überhaupt einen Speisewagen gab. Wenn der Zug zwischen Belgrad und Skopje irgendwo hielt, standen Händler am heißen Bahnsteig und verkauften leckere Fleischspießchen. Ich war damals natürlich noch kein Vegetarier, was ein Vorteil war. Und kein Hygiene-Fetischist. Um es vornehm auszudrücken: die Toiletten waren nach einiger Zeit in einem suboptimalen Zustand. Schlafen war allerdings kein Problem: mit Isomatte­ auf der Gepäckablage, auf dem Boden im Gang und auch mal aufeinander im Abteil. Im Süden schliefen wir auf den Bahnhöfen und wochenlang am Strand. Keine Ahnung, was daheim los war. Die Welt war noch kein globales Dorf. Kommunikation? Information? Ein Kursbuch hatte niemand. Deshalb war die Reiseroute auch eher davon bestimmt, wohin der nächste Zug fuhr. Oder noch besser: ob ein Zug einen durch die Nacht bringen konnte. Das ist heute natürlich anders. Mit dem Reiseplaner der DB auf dem Handy kann ich in Sekunden wissen, wann, wo, welcher Zug in Europa fährt oder gar verspätet ist. Im Jahr 2022, 42 Jahre nach meinem Heftchen, ist Interrail eine rein digitale Veranstaltung. Und wir sind nur zu zweit unterwegs: meine Frau und ich. Unsere Regel Nummer 1: kein Schalter, kein Papier. Das Ticket kaufte ich ein paar Tage vor Reisebeginn digital auf der Seite Interrail.eu. Account erstellen, online bezahlen, schon wird ein Code zugeschickt. Mit einer speziellen Interrail-App lud ich damit das Ticket auf mein Handy und legte Liège–Lyon als meine erste Verbindung fest. Dafür bekam ich einen QR-Code, der im Zug kontrolliert wurde. Das klappte so weit ganz gut. Hatte allerdings auch Nachteile. Ich stand eben nicht an Schaltern, sondern hing Stunden am Handy. Ich brauchte nämlich eine Weile, um die etwas sperrige App zu verstehen. Und dann die Sorge, dass das Handy abstürzt oder ins Klo fällt. Wir hatten extra noch ein Tablet dabei für den Notfall. Besonders zeitraubend sind die Reservierungen, womit wir bei den Interrail-Kopfschmerzen des Jahres 2022 sind. Wir fuhren als Erstes eben mit einem TGV von Brüssel nach Lyon. Dafür braucht es eine extra Reservierung, da die Züge TGV, Thalys, AVE, Eurostar und die italienischen Hochgeschwindigkeitszüge reservierungspflichtig sind. Das schränkt das Vergnügen und die Freiheit erheblich ein. Richtung Lyon mussten wir einen Tag früher losfahren, da am eigentlichen Reisetag keine Reservierungen über die Interrail-App möglich waren. Anscheinend gibt es da nur wenige Interrail-Kontingente. Im Netz berichten Interrailer, dass man deshalb im Sommer schon Wochen im Voraus reservieren müsse. Und noch blöder: Die Reservierungen sind zum Teil heftig teuer, trotz Interrail-Ticket. Oft kostet das nicht nur zehn Euro (was ja okay ist), sondern bei internationalen Verbindungen auch mal 20 oder sogar 30 Euro. Und zwar nicht pro Verbindung, sondern pro Zug. Und da hört der Spaß auf, insbesondere, weil Interrail jedes Mal selbst noch unverschämte vier Euro Bearbeitungsgebühr draufschlägt. Teure Reservierungen Unsere Reiseroute war tatsächlich von der Reservierungsfrage beeinflusst. Wir hatten einfach keine Lust, 50 Euro extra zu bezahlen für die Reservierungen einer bestimmten Verbindung. Deshalb ging es von Lyon eben nicht wie ursprünglich geplant nach Spanien, wo die Gebühren hoch und online kaum zu regeln sind, sondern an die Côte d'Azur und weiter Richtung Italien. Wenn man das weiß, kann man sich darauf einstellen. Also entdeckten wir das fantastische Lyon, weil das unserer zweiten Regel entsprach: Wir fahren nur in Orte, die etwas im Schatten stehen, wo wir nie waren. Also nicht Paris oder Marseille, sondern Lyon. Nicht nach Cannes oder Nizza, sondern nach Antibes. Nicht nach Mailand, sondern nach Turin. Nicht in Bozen Station machen, sondern in Trento. Nicht Innsbruck, sondern Bregenz. Das war Bombe. Was für eine Überraschung: Lyon ist eine relaxte Fahrradstadt, in der wir das durchdachte Leihfahrradsystem genossen. Am Cap von Antibes bei Nizza machten wir unsere bisher spannendste Klippenwanderung, inklusive einer heftigen Salzwasserdusche bei stürmischer See. Und die Panoramastrecke mit dem Zug am Meer entlang war großartig: über Nizza, Monte Carlo, Ventimiglia, Genua, dort Umstieg in Richtung Piemont nach Turin. Warum sind wir eigentlich noch nie in Turin gewesen? Wir wunderten uns über die schöne Stadt mit dem palastähnlichen Bahnhof Porta Nuova und den 18 Kilometer langen Arkaden unter Renaissance­fassaden. Den Bahnhofspalast sahen wir vom Hotelzimmer aus. Dann das war unsere Regel Nummer 3: kein Taxi, kein Bus, sondern vom Bahnhof zur Unterkunft zu Fuß! Hat immer geklappt und war angenehm. Anders als früher hatte ich nämlich keinen bescheuert schweren Rucksack dabei, sondern einen kleinen, handlichen Rollkoffer. Das ist vielleicht nicht so jugendlich, aber sehr rückenschonend. Und ich gebe zu: Anders als damals konnten wir uns ein gutes Hotel leisten und mussten nicht am Bahnhof schlafen. Wieder ein Segen der Digitalisierung: in wenigen Minuten in dem Stadtviertel ein Zimmer buchen, in das man wirklich möchte. Das ist in der Nebensaison ein Vergnügen. Früher hatten wir die Travellerschecks und das Bargeld in verschiedenen Währungen im Brustbeutel. Heute reisten wir mit Karte, bargeldlos, ohne je am Bankautomaten sein zu müssen. Noch eine Überraschung: In allen Städten war es rund um den Bahnhof weder schäbig noch obskur, sondern lebendig und interessant. Das war vor 42 Jahren noch anders. Senioren können Teil einer Jugendbewegung sein Wie früher schlossen wir Bekanntschaften im Zug, wenn auch altersgerecht. Wir unterhielten uns zwischen Ventimiglia und Genau stundenlang mit einem kanadischen Rentnerehepaar. Die beiden reisen in Europa von Marathon zu Marathon. In diesem Monat liefen sie in Paris und Wien mit, was mich durchaus beeindruckte. Unterwegs waren sie übrigens mit einem Eurail-Ticket. Das ist die Schwester von Interrail für Nichteuropäer. Gefühlt war unser Trip schon eine Art Senioreninterrail. Wie bereits bemerkt, dürfen heute auch Menschen über 27 ein Ticket kaufen – wenn auch etwas teurer. Ab 60 wird es für uns in einigen Jahren sogar wieder günstiger. Die Alten sind eben die jungen Interrailer von morgen. Unser Pass galt für 15 Tage mit 15 Reisetagen und kostet in der zweiten Klasse 443 Euro. Es gibt aber auch beispielsweise 15 Reisetage in einem Zeitraum von zwei Monaten. Oder nur vier Reisetage in einem Monat. Welcher Pass für das geplante Schienenabenteuer Sinn macht, kann heute ein schwieriges Puzzle sein. Und aufpassen: Im eigenen Land ist nur eine Fahrt zur Grenze und eine zurück im Ticketpreis enthalten. Also sind Reisen im ICE für Leute mit deutschem Wohnsitz begrenzt. Für uns mit Wohnsitz in den Niederlanden jedoch nicht! Mit einem niederländischen Interrail-Pass stand uns der ICE zur freien Verfügung. Dieser ist eigentlich der Geheimtipp, weil es keine Reservierungspflicht gibt. Wir können einfach einsteigen und losfahren. Unsere Reise war so schön, dass wir bereits wieder ein Interrail-Ticket für den Sommerurlaub bestellt haben. Es gibt nämlich noch viele Schätze in Europa zu entdecken. Ein großer Vorteil: Mittlerweile verstehe ich die App einigermaßen. Martin Unfried Bildnachweis: * TEXT: Valorde91, Interrail Logo, CC BY-SA 4.0 *Shortlink: https://w.wiki/5VaH * Plain Text: Valorde91 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Interrail_Logo.png), „Interrail Logo“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode * HTML: Valorde91 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Interrail_Logo.png), „Interrail Logo“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode Grafik: Valorde91, „Interrail Logo“, CC BY-SA 4.0 , Details: Wikimedia Commons: https://w.wiki/5VaH 09.07.2022 | Samstag | Das VCD-Magazin "fairkehr" | "Reise" 3/2022 | Alarmstufe Rot: Was kommt nach 1,5 Grad? | Martin Unfried | Reise 3/2022: Zugreisen in Europa | Interrail reloaded | Interrail wird 50! 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