Kolumne fairkehrt 2/2024 Sonne und Ausreden Da stehen wir also auf der Terrasse in Šibenik an der kroatischen Adria. Es ist unverschämt schön hier. Blauer Himmel, herrlicher Blick aufs Meer, Kaffee und leckeres Gebäck in der Pause zwischen den Vorträgen. Fühlt sich an wie Urlaub, nicht wie eine Dienstreise. Mir ist bewusst, dass es ein echtes Privileg ist. Dabei geht es bei der Tagung tatsächlich um etwas sehr Wichtiges: die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der EU. Um mich rum: sehr nette Europäer*innen. Überzeugt von den Segnungen der EU, besorgt über nationalistische Tendenzen in vielen Mitgliedstaaten. Dann die unvermeidliche Frage: Wann mein Flug gehe? Wahrheitsgemäß vermelde ich, dass ich heute Abend den Flixbus nehme über Nacht. Überraschung. Die Veranstalter hatten einen Shuttle zum Airport angeboten, nicht aber zum Busbahnhof. Auch keine Tipps, wie man die Veranstaltung klimafreundlicher erreichen könnte. Es dämmert meinen Gesprächspartner* innen, dass es bei mir nicht an Flugangst liegt. Ich erzähle wahrheitsgemäß, dass ich Flüge vermeide, wenn es irgendwie möglich ist. Zustimmendes Nicken. Dann tritt ein, was ich die letzten 30 Jahre immer erlebe. Nette Menschen, die sich der heftigen Auswirkungen unserer CO2-Emissionen sehr bewusst sind, finden gute Gründe, warum es eben nicht möglich sei, aufs Flugzeug zu verzichten. Wenn es einen guten Nachtzug gäbe! Wenn sie etwas mehr Zeit hätten! Wenn der Flug nicht so unverschämt günstig wäre! Da nicke ich dann meinerseits zustimmend. Ja, das sei alles richtig. Ganz nebenbei: Der europäische Flugverkehr ist für die EU sehr wichtig. Natürlich müssen Leute aus Malta und Finnland zu Sitzungen nach Brüssel fliegen. Oft geht es neben dem Technischen um Vertrauen, und das entsteht eben schwerer, wenn die Politiker* innen und Beamten sich nur über Video sehen. Allerdings fehlt es auch im Jahr nach dem klimatisch schlimmsten Sommer in Europa an einfachen klimafreundlichen Routinen, wie guten Informationen und Vorschlägen zu Flugalternativen. Routine ist immer noch der Shuttle zum Flughafen. Vor allem fehlt es an der Umdeutung, was normal ist. Ein Nachtbus gilt immer noch als unzumutbar, der Klimaschaden des Fluges dagegen nicht. Dabei ist der Flug alles andere als normal. Bei unserem Gespräch auf der paradiesischen Terrasse ging es dann ins Private. Eine sehr junge Französin gab zu, dass sie gerne noch so viele Orte sehen wolle, auch in den USA und Asien. Auch das verstand ich. Es sollte für einen 60-Jährigen, der schon viel gesehen hat, einfacher sein, auf interkontinentale Flüge zu verzichten. Ist es aber nicht, wie ich immer wieder feststelle. Im Nachtbus später hatte ich dann viel Zeit und las im neuen Buch „Demokratie und Revolution“ von Bernd Ulrich und Hedwig Richter von der Ausredengesellschaft, in der wir leben. Unsere Gesellschaft hält krampfhaft an der Bewahrung einer Normalität fest, die eben alles andere als normal ist. Und viele Politiker unterstützen das sogar noch (Söder: „Wir lassen uns das Schnitzel nicht verbieten“). In dem Buch las ich auch von einem überraschenden Begriff: Untermoralisierung. Also, zu wenig Moral in der Klimakommunikation. Ich muss sagen, auch ich habe vor 20 Jahren aufgehört, die Leute auf ihre moralische Verantwortung in Sachen Flugreisen hinzuweisen, weil es nur negative Gefühle auslöste. Vielleicht wird es auch für mich Zeit, wieder mit der Moral zu kommen. Anstatt verständnisvoll zu nicken, sollte ich vielleicht den Vielfliegern wieder mit einem herzlichen „Bist du wahnsinnig“ kontern.■ Martin Unfried forscht an der Uni Maastricht zu europäischer Politik in Grenzregionen. Er liebt Wärmepumpen, dynamische Strompreise, Nachtbusreisen, S-Pedelecs und seine Heimat, die Europäische Union.

Erstveröffentlichung: www.vcd.org/magazin-2-2024

10.05.2024 | Freitag | Das VCD-Magazin "fairkehr" | Kolumne fairkehrt 2/2024 | Sonne und Ausreden | Schlagworte: Fliegen, Vielfliegern, CO2-Emissionen, klimafreundlichen Routinen, Nachtbus, Klimaschaden, Untermoralisierung, Klimakommunikation | Erstveröffentlichung: www.vcd.org/magazin-2-2024 | Bio: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Unfried https://www.vcd.org/magazin-2-2024 Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:20150606_xl_P1000091-cut_Martin_Unfried.JPG https://w.wiki/Mcv TXT: Molgreen, 20150606 xl P1000091-cut Martin Unfried, CC BY-SA 4.0, https://w.wiki/Mcv PLAIN TEXT: Molgreen (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:20150606_xl_P1000091-cut_Martin_Unfried.JPG), „20150606 xl P1000091-cut Martin Unfried“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode HTML: Molgreen, 20150606 xl P1000091-cut Martin Unfried, CC BY-SA 4.0 https://oekotainment.eu/archiv/html/sonne-und-ausreden

https://oekotainment.eu/20240510a

20240510fairkehrt2-2024-sonne-und-ausreden.kolumne_fairkehr2-2024.pdf, PDF-Version der Erstveröffentlichung auf www.vcd.org

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