Kolumne fairkehrt 4/2024 Unter den Ulmen In unserer Straße, die bekanntermaßen die schönste Straße von Maastricht ist, wachsen sie gewaltig in den Himmel: riesige Ulmen. Im Abstand von 20 Metern formen sie im Frühjahr und Sommer eine geschlossene grüne Krone. Dabei sind die Bäume in den letzten Jahren so hoch und breit gewachsen, dass, zugegeben, kleinere Unannehmlichkeiten auftreten. Zum einen nimmt ihr Stamm mittlerweile die Hälfte des Gehweges ein, sodass junge Väter an manchen Stellen kaum mehr mit dem Kinderwagen vorbeikommen. Und weil die Wurzeln nach oben drücken, lupfen sie die Gehwegplatten, weshalb die Sturzgefahr für Fußgänger und Fußgängerinnen zugenommen hat. In den Baumkronen haben in den letzten Jahren immer mehr Tauben ein behagliches Zuhause gefunden, was man an den Frontscheiben mancher Autos sieht, die im Sommer öfter mal komplett „eingedeckt“ werden. Auch für Menschen, die bei uns vorbeispazieren, gibt es ein gewisses Restrisiko. Darüber hinaus: Höhe und Dichte der Baumkronen haben seit einigen Jahren einen immer stärkeren Effekt auf unsere Photovoltaikanlagen. Ich habe auf unserem Reihenhausblock mit meinen Nachbarn PV montieren lassen. Jetzt bemerken wir den spürbar schwindenden Ertrag: Besonders im Frühling und im Herbst kommt die Sonne nicht hoch genug, und die Dächer erleiden schmerzhafte Verschattungen. Das tut weh. Ich bin nämlich sowohl ein Liebhaber von Bäumen als auch von solarer Stromproduktion. Die emotionale Klimabilanz unserer Bäume ist also nicht nur positiv. Kommen wir also zum Wesentlichen: Wäre ich wegen dieser Kleinigkeiten bereit, eine Fällung der Bäume zu fordern, wie in der Nachbarschaft diskutiert wird? Aber nein! Absolut nicht! Wie gesagt, wir leben in der schönsten Straße Maastrichts. Und das liegt natürlich auch an dem großartigen Baumbestand mit seinen unschlagbar positiven Effekten. Die Luft ist bei uns besser als in anderen Straßen. Ich stehe oft am Abend am offenen Fenster und bade im Wald, also wenigstens in einer Art Stadtwald. Das soll sehr gesund sein. Und in den tropischen Sommern, die in den letzten Jahren selbst die Niederlande heimgesucht haben, war es bei uns immer wesentlich kühler als in baumlosen Stadteilen. Im Juli und August ist unser Haus an der Südseite so stark verschattet, dass es im Wohnzimmer auch bei einer Hitzewelle nie über 24 Grad warm wird. Gleichzeitig sehe ich, wie anderswo in der Stadt nicht die Bäume, sondern die Zahl der Klimaanlagen in den Himmel wachsen. Blattlos und beige hängen sie an den Giebeln. Bei uns nicht nötig, wegen unserer grünen Freunde. Und jetzt im Herbst? Kann ich beim Schreiben den Blättern beim Fallen zusehen und melancholisch über den Herbst des Lebens nachdenken. Insofern haben unsere Bäume auch eine wichtige therapeutische Bedeutung. Ich kann ihnen alle meine Geheimnisse anvertrauen und spare mir damit den Psychiater. Habe ich schon erwähnt, dass ich jeden Morgen einen Baum umarme? Und zwar immer Almut, die Ulme. Ihr verzeihe ich alles, sogar die Verschattung meiner Solarmodule. Verschattung ist übrigens kein Problem für Wärmepumpen, womit ich beim Cliffhanger wäre: Ich hab im Frühjahr meinen Gasanschluss gekündigt. Yeaaah! Ich heize mit einer herkömmlichen Klimaanlage. Juhuuu! Ich habe eine riesige Batterie im Keller und einen dynamischen Stromvertrag. Warum gebe ich damit an? Weil wir bei aller Depression in Deutschland vom Gelingen der Energiewende sprechen müssen. Ich habe nämlich keine monatlichen Energiekosten mehr. Das erzähle ich öfter mal meinen Bäumen – und Ihnen im nächsten Heft.■ Martin Unfried forscht an der Uni Maastricht zu europäischer Politik in Grenzregionen. Er liebt Wärmepumpen, dynamische Strompreise, Nachtbusreisen, S-Pedelecs und seine Heimat, die Europäische Union.

Erstveröffentlichung: www.vcd.org/magazin-4-2024

07.12.2024 | Freitag | Das VCD-Magazin "fairkehr" | Kolumne fairkehrt 4/2024 | Unter den Ulmen | Schlagworte: Ulmen, positive Effekte, Photovoltaikanlagen, Verschattung, Wärmepumpen | Erstveröffentlichung: https://www.vcd.org/magazin-4-2024 | Bio: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Unfried https://www.vcd.org/magazin-4-2024 Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:20150606_xl_P1000091-cut_Martin_Unfried.JPG https://w.wiki/Mcv TXT: Molgreen, 20150606 xl P1000091-cut Martin Unfried, CC BY-SA 4.0, https://w.wiki/Mcv PLAIN TEXT: Molgreen (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:20150606_xl_P1000091-cut_Martin_Unfried.JPG), „20150606 xl P1000091-cut Martin Unfried“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode HTML: Molgreen, 20150606 xl P1000091-cut Martin Unfried, CC BY-SA 4.0

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