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18.01.2015 | Sonntag | Reminiszenz
Am Mittwoch, den 07.01.2015, verstarb der Sozialwissenschaftler und ökologischer Vordenker Otto Ullrich im Alter von 76 Jahren. (taz.de:„Ein Störenfried im besten Sinn“) Anlässlich seines Todes möchten wir seinen Text „Sackgasse Automobilismus“ veröffentlichen, den er uns als Reaktion auf die Ausgabe Heft 3/2013 der Zeitschrift fairkehr zum Thema „Die Zukunft des Autos“ zukommen ließ.
Dieser Text passt so gar nicht zu Ökotainment, weshalb wir ihn erst jetzt (er war mit der Veröffentlichung einverstanden) online stellen. Wir hatten im Jahr 2013 mit ihm korrespondiert, wobei er sich über fehlende Radikalität bei VCD und anderen beschwerte.
Otto Ullrich konnte wohl auch mit dem Ökotainmentansatz wenig anfangen. Er setzte keine Hoffnungen auf Wandel durch Elektroautos oder Pedelecs, also technische Veränderungen. Den Versuch, den deutschen Mainstream nicht mit moralischen Argumenten, sondern mit heiterer Kommunikation vom Autowahn abzubringen, konnte er nicht nachvollziehen.
Dagegen waren seine Texte eine scharfe und unangenehme Analyse und Anklage, was die Autogesellschaft eigentlich anrichtet. Auch wenn es nicht unser Stil ist und nicht in allem unserer Meinung entspricht, finden wir den Text in seiner Radikalität dennoch wichtig. Er zeigt vor allem, dass Otto Ullrich absolut nicht bereit war, seinen Frieden mit der aktuellen Verkehrspolitik zu machen.
Martin Unfried & Armin Krejsa
Nachfolgend der Text von Otto Ullrich:
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Die Beiträge zur „Zukunft des Autos“ im VCD-Magazin vom Juni 2013 sind eingeengt auf die isolierte Betrachtung des technischen Geräts Auto. Sie ignorieren den zerstörerischen Gesamtkomplex des herrschenden Automobilismus. Die Beiträge zeigen, wie die real existierende Übermacht des Autowahns selbst verkehrskritische Menschen beeinflusst. Aus dem Blick gerät dann, dass es kein anderes Techniksystem gibt, das in so vielen Dimensionen so dramatisch viele Schäden erzeugt wie der Automobilismus.
Da ist zunächst das kriegsähnliche Töten und Verstümmeln von Menschen und Tieren. In Deutschland sind bisher über eine Million Menschen durch den Kraftfahrzeugverkehr gestorben. Trotz technischer Verbesserungen am Auto, großer Fortschritte bei Rettungsdiensten und der Unfallchirurgie, der Vertreibung der Fußgänger und Radfahrer von der Straße und der Käfighaltung von Kindern sterben in Deutschland jedes Jahr immer noch rund viertausend Menschen im Straßenverkehr, fast eine Million wird verletzt, davon etwa ein Drittel schwer. Die Zahl der Schwerverletzten, also der lebenslang verkrüppelten Menschen, ist tendenziell konstant. Weltweit werden pro Jahr über eine Million Menschen im Straßenverkehr getötet, rund fünfzig Millionen verletzt, davon rund die Hälfte schwer.
Das Sterben der Tiere durch den Automobilismus ist ebenfalls gigantisch. Manche Tierarten werden dadurch praktisch ausgerottet, auch wegen der hohen Trennwirkung der Auto-Rennpisten. Pro Jahr brettert über eine Million mal auf deutschen Straßen ein Auto in ein Wildtier. Von April 2011 bis März 2012 wurden in Deutschland allein rund zweihunderttausend Huftiere durch Autofahrer umgebracht. In den USA werden durch den Straßenverkehr pro Tag etwa eine Million Wildtiere getötet.
Unübersehbar sind auch die vielen Emissionen der Kraftfahrzeuge. Neben den aktuell diskutierten klimaschädigenden Abgasen gibt es die viel zu wenig beachteten Feinstäube, die außerhalb der Fahrzeuge entstehen: Die über hunderttausend Tonnen synthetischer Feinstäube durch Reifenabrieb, oder durch den etwa ein Millimeter starken Abrieb der Fahrbahnen pro Jahr. Diese Feinstäube sind zusammen mit den Feinstäuben aus den Auspuffen von ganz erheblicher Gesundheitsgefahr.
Aus dem Blick sind auch die immensen Einträge in Böden und Gewässer: Aus Millionen von Leckstellen und Verschleißvorgängen werden Asbest, organische Feststoffe, Fette, Öle, Phosphate, Gummi, Blei, Chrom, Kupfer, Nickel und viele weiteren Schadstoffe in die Böden und Gewässer eingetragen. Hinzu kommen etwa eine bis zwei Millionen Tonnen Tausalze, die Pflanzen schädigen.
Zu den Emissionen der Autos gehört auch die martialische Verlärmung, die zu einem flächendeckenden Lärmnotstand geführt hat. Dadurch werden in gleicher Größenordnung Menschen krank gemacht und getötet wie durch die Verkehrsunfälle. Bei den Geschwindigkeiten, die heute gefahren werden, sind es die Rollgeräusche, die den Lärm erzeugen, nicht die Motoren. Leise Elektroantriebe bringen hier also nichts.
Ganz aus dem Blick sind die raumzerstörenden Wirkungen des Automobilismus. Es ist nicht nur der riesige Flächenverbrauch für die Autoerschließung des Raums, es ist vor allem die Zerstörung der Lebensräume für die Menschen. Die Industrialisierung von Raum und Zeit begann mit der Eisenbahn. Sie hat den menschlichen Lebensraum schon erheblich beschädigt. Aber die Verwüstung des Lebensraums Stadt durch die Zurichtung der Straßen, die Begegnungsräume für Menschen waren, zu einem maschinenzentrierten Verkehrsraum erfolgte in voller Brutalität und Rücksichtslosigkeit erst durch den Automobilismus. Den Straßenraum beherrscht nun der Motorist mit dem Recht auf Vorfahrt gegenüber Nichtmotorisierten, mit dem Recht, öffentliche Räume zu verschandeln durch vollgeparkte Flächen und mit dem Recht, zu verletzen und zu töten bei extrem geringen Sanktionen.
Die Zerstörung der Nahräume und Zurichtung der außerhäuslichen Lebensräume für den Automobilismus hat eine Infrastruktur der Gewalt erzeugt, die den Stärkeren, Rücksichtsloseren und Finanzkräftigeren bevorzugt. Wegen meist nur marginalen Zeitgewinnen und Bequemlichkeitsvorteilen nimmt der motorisierte Raubritter bedenkenlos in kauf, die Folgen seiner Autonutzung auf andere zu verschieben. Tatort und Leidensort sind getrennt.
Die Entstehung der Unrechtsstrukturen zugunsten der Stärkeren und Rücksichtsloseren, des Tempovirus, des Beschleunigungswahns, die maßlose imperiale Raumbemächtigung, die Antriebskräfte für das Schneller, Weiter, Größer, Mehr gründen im Projekt der Moderne und des kapitalistischen Industrialismus, verbunden mit dem maßlosen Einsatz fossiler Energien.
Dieser größere Kontext kann hier nicht vertieft werden. Wichtig ist festzuhalten: Die geschilderten menschenrechtsverachtenden Folgen des Automobilismus sind nicht zu beheben durch noch so raffinierte technische Veränderungen und mediale Aufrüstungen an den motorisierten Kisten, worauf sich die VCD-Beiträge allein kaprizieren. Das Auto als Massenverkehrsmittel ist ein technischer Irrläufer, der durch Technik nicht zu verbessern ist, wie Atomkraftwerke. Will man wieder menschengerechte Siedlungsräume, bleibt nur der Ausstieg aus dem Automobilismus.
Das Kraftfahrzeug kann nur in einer sehr geringen Zahl eine „Zukunft“ haben für Notdienste, Zustellungen schwerer Lasten, Gehbehinderte. Man wird auch hier genau bestimmen müssen, unter welchen Bedingungen man diese Fahrzeuge in den Lebensraum Straße zulassen kann.
Schritte zum Ausstieg aus dem Automobilismus sind Geschwindigkeitsreduzierungen auf ein menschliches Maß und eine Flächenrückerstattung von Autos zu Menschen.
Die technikgläubige Vorstellung, man könne durch Sensor-Aufrüstungen der Fahrzeuge Vision Zero, also keine Toten und Schwerverletzten im Strassenverkehr, erreichen, ist grotesk und wirklichkeitsfremd. Die Menschen wären gezwungen, sich damit abzufinden, wie Charly Chaplin im Bauch eines maschinellen Räderwerks zu leben, immer in der Furcht, dass ein Sensor ausfällt und die Räder einen zermalmen. Und es würden massenhaft immer wieder Abstandssensoren ausfallen.
Für Vision Zero muss die Geschwindigkeit der Autos so weit reduziert werden, dass die menschliche Reaktionsfähigkeit für Ausweichbewegungen wieder ausreicht. Als Karl Benz seine stinkende Knatterkiste auf Straßen fahren lassen wollte, bekam er als Auflage, innerhalb der Stadt nicht schneller als 6 km/h und außerhalb nicht schneller als 12 km/h zu fahren. Damals wußte man noch, wo die Grenzen der Zumutung lagen, diesen maschinellen Fremdkörper in den Lebensraum Straße zu lassen.
Beginnen kann man mit Tempo 10 bis 15 in Wohngebieten, Tempo 25 bis 30 auf Sammelstraßen, Tempo 60 bis 70 auf Landstraßen und Tempo 80 bis 90 auf Autobahnen. Man muss dann die Geschwindigkeiten auf den Straßen so lange erniedrigen, bis Vision Zero erreicht ist.
Damit Menschen nicht im Schlaf gestört werden, müssen wohl die meisten Straßen nachts für Autos gesperrt werden. Der Schutz der Gesundheit vor Lärm ist in gar keiner Weise auszuhebeln durch das Verlangen einiger Motoristen, jederzeit durch die Gegend zu düsen.
Ein weiterer wichtiger Grund verlangt in Wohngebieten eine Tempobegrenzung, die in der Nähe von Radfahrgeschwindigkeiten liegt: Der Schutz der Nahräume für eine fußläufige Versorgungsinfrastruktur. Sobald sich einige Betuchten herausnehmen können, mit einem schnellen Auto attraktivere Ziele in der Ferne aufzusuchen, läuft die lokale Nahversorgung Gefahr, auszudörren. Die Siedlungsstruktur wird dadurch ungerecht.
Interessanterweise hat ja durch das Auto die Mobilität nicht zugenommen. Mobilität bedeutet Außer-Haus-Bewegungen für bestimmte Zwecke. Diese Wege verharren bei etwa 3,5 Wege pro Tag und Person. Auch das Reisezeitbudget ist praktisch eine Konstante von 70 bis 75 Minuten pro Tag und Person. Zugenommen durch das Auto hat somit nicht die Mobilität, sondern die zurückgelegte Entfernung, der motorisierte Verkehrsaufwand. Diesen muss man als Müll betrachten, den man möglichst gering hält. Es ist völlig unsinnig, diese Verkehrsmüll-Erzeugung auch noch zu subventionieren, etwa durch steuerlich absetzbare Pendler-Pauschalen. Das Gegenteil müsste erfolgen, um das Pendler-Unwesen einzuschränken. Durch die motorisierte Verkehrsmüll-Erzeugung werden jährlich „externe Kosten“ in dreistelliger Milliardenhöhe verursacht, die auf alle Steuerzahler abgewälzt werden.
Neben der Tempobegrenzung auf ein menschliches Maß ist die Flächenrückerstattung von Autos auf Menschen ein zweiter wichtiger Schritt in Richtung Ausstieg aus dem Automobilismus. Das Ziel ist die Fußgängerstadt, in der die wichtigsten Ziele fußläufig erreichbar sind. Darum müssen die vom Auto beherrschten Flächen superstate werden an Fußgänger, Radfahrer, Pflanzen, öffentliche Gemüsegärten, Tiere und abgegrenzte Trassen für Straßenbahnen.
Auf öffentlichen Flächen darf kein Parkraum ausgewiesen werden, auch nicht für Carsharing, das seltsamerweise selbst von Autokritikern völlig falsch eingeschätzt wird. Die Gegenüberstellung besitzen oder leihen führt in die Irre. Leicht verfügbare Autos an jeder Ecke würden den Automobilismus nur stärker vorantreiben. Gleichgültig, ob als Besitz oder geteilt, und gleichgültig, mit welchem Motor es angetrieben wird, die Auto-Nutzung muss systematisch behindert werden. Carsharing bewirkt genau das Gegenteil, wie die begeisterten Berichte in fairkehr über die „überall im Stadtgebiet herumstehenden“ Leihautos zeigen. Carsharing macht die Autonutzung noch bequemer und spart Geld, das man dann als unersättlicher Tourist verfliegen kann. Wer sich ein teures Auto kauft, es in die Garage stellt, pflegt und kaum damit fährt, sehr viel Geld dadurch bindet, das er nicht verfliegen kann, lebt viel ökologischer als der muntere Carsharing-Nutzer.
Warum ist das so schwer zu begreifen: das Ziel und die unverkennbare Wirkung des Carsharing ist, den Autowahn zu verlängern, das Auto als Option für den motorisierten Massenverkehr beizubehalten. Das hat die Automobilindustrie besser begriffen. Sie ist sehr beunruhigt über den leichten Trend bei einigen jungen Menschen in großen Städten, die ihr knappes Geld eher für iProdukte ausgeben als für den Kauf eines Autos. Darum müllt etwa Daimler-Benz mit hoch subventionierten Mietautos (car2go, Smart) Großstädte zu. Als Anette Winkler, die Chefin von Smart, gefragt wurde, ob sie dadurch nicht das Verkaufsgeschäft kaputt machten, antwortete sie: „Das stellen wir überhaupt nicht fest. Außerdem gibt es im Automobilgeschäft kein besseres Marketinginstrument als das fahrende Auto auf der Straße.“ (FR 3.3.2012)
Genau deswegen sollte zunächst der „ruhende Autoverkehr“ völlig unsichtbar werden, kein Auto darf auf Straßen parken. Das Carsharing-Angebot müsste sich in gemietete oder gekaufte Häuser zurückziehen, was dann für die Autoindustrie und die Nutzer unattraktiv würde. Zu verbinden wäre das mit einem Verbot aller Autowerbung.
Ganz wichtig wäre die vom Auto befreite Großstadt als ein endlich nachahmungsfähiges Projekt für die Nachahmungsländer, die bislang besinnungslos unsere katastrophenträchtige Produktionsund Lebensweise nachahmen. Berlin könnte hier den Anfang machen, um zu zeigen, wie lebenswert eine Stadt für alle wird, den den Moloch Automobilismus überwunden hat.
Noch wird der Automobilismus von sehr mächtigen Interessen getragen, er wird begünstigt durch die autogerechte Zurichtung der Infrastruktur, durch eingeübte Gewohnheiten, die eine sehr große Trägheit haben. Nicht zuletzt wird der Autowahn auch getragen durch die drogenähnliche Wirkung des Autos, das Bequemlichkeitsverhalten in der Fortbewegung zu verstärken.
Man weiß das alles seit Jahrzehnten. Es gibt eine große Zahl von Studien, Büchern und Texten, die seit langen belegen, dass menschengerechte Siedlungsstrukturen zusammen mit Autos als Massenverkehrsmittel nicht möglich sind, dass das Auto verboten werden müsste, wenn Menschenrechte, „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Grundgesetz), wirklich die obersten Ziele wären, was sie ja eigentlich sind und sein sollten. Selbst in Publikationen wie der ZEIT stand schon vor 33 Jahren: „Wir werden noch lernen müssen, uns zu schämen angesichts jener Entmenschung, die mit dem Automobilismus über uns gekommen ist.“
Warum lernen hier so wenige? Ein Grund ist die große Kluft zwischen Wissen und Verhalten, die man auch schon lange kennt. Das angewöhnte Verhalten wird durch „mentale Infrastrukturen“ betonartig stabilisiert. Diese sind durch rationale Argumente, also durch Wissen, sehr schwer aufzubrechen. Darum ist es besonders beklagenswert, wenn in VCD-Magazinen sogar Wissen über den Automobilismus verloren gegangen ist oder aus Opportunismus ignoriert wird.
Otto Ullrich, Berlin, Samstag, den 03.08.2013, www.otto-ullrich.de
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