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10.12.2024 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 31 | Gesellschaft
Wie sich Standards in der politischen Debatte auch in Demokratien verschieben können, zeigt vor allem natürlich der US-amerikanische Wahlkampf. Wie kann ein Politiker an einer Wahl teilnehmen dürfen, der nach der letzten offen bekannte, eine Wahlniederlage nicht anzuerkennen und das vor dieser Wahl wiederholte? Eine solche Haltung galt noch vor wenigen Jahren als völlig unamerikanisch, da die friedliche, zivilisierte Machtübergabe und die Anerkennung von politischen Mehrheiten diese Demokratie im Kern ausmachten. In wenigen Jahren hat sich also für einen Teil der amerikanischen Gesellschaft Trumps Haltung zur »demokratischen Normalität« verschoben. In der neuen Normalität ist selbst seine Verurteilung vor Gericht kein Hinderungsgrund.
Wie sich eine solche Veränderung vollzieht, kann man auch in einem Mitgliedstaat der EU beobachten, der immer ein besonders unverdächtiges, positives und sympathisches Image hatte. Heute ist das Image der Niederlande besonders in Deutschland immer noch positiv – zu positiv. Zu wenig wird von außen thematisiert und gespiegelt, welche negative Entwicklung das Land nimmt und wie »unnormal« einige Tendenzen sind.
Die aktuelle Regierung wird von Geert Wilders dominiert, der offen rechtsextreme Positionen vertritt und in seiner Partei keine Demokratie zulässt. Er hatte bei der Parlamentswahl 2023 mit rund 25 Prozent die meisten Stimmen bekommen. Anders als in der Vergangenheit waren drei Parteien rechts der Mitte bereit, mit ihm zu koalieren. Darunter ist die rechtsliberale VVD, die Partei des Expremiers und heutigen Nato-Generalsekretärs Mark Rutte.
Die Koalitionspartner von Wilders ließen zwar nicht zu, dass er selbst Premier wurde, dafür konnte er mit dem ehemaligen Beamten Dick Schoof eine Marionette einsetzen, die sich als Diener der Koalitionsvereinbarung versteht und von Wilders bereits in der ersten Parlamentssitzung recht unfreundlich abgekanzelt wurde.
Die Bereitschaft zur Koalition mit Wilders ist alles andere als normal. Die Partei PVV, ironischerweise »Partei der Freiheit«, gibt es nämlich im deutschen Sinne gar nicht. Wilders ist das einzige Mitglied und nach dem Führerprinzip bestimmt er, wer auf welchen Listenplatz kommt und wer nicht. Da Wilders mit dieser Konstruktion seit 2006 im Parlament in Den Haag sitzt, hat man sich daran gewöhnt. Überraschenderweise gibt es in den Niederlanden kein Parteiengesetz, das innerparteiliche Demokratie vorschreibt.
Wer spricht eigentlich für die Partei in einer solchen Koalition, wenn Wilders krank ist? Das ist weder für die Regierung noch eine breitere Öffentlichkeit ein Thema. Vor wenigen Wochen hat nun die linksliberale Partei D66 aus der Opposition heraus ein Parteiengesetz gefordert, das Ein-Mann-Parteien verbieten würde. Zu spät. Dafür gibt es selbstverständlich nun keine politische Mehrheit mehr. Man sieht daran, dass es sich eben rächt, wenn in Demokratien das Undemokratische zu lange toleriert wird.
Dabei kam die Normalisierung des Unnormalen auch in den Niederlanden häppchenweise daher. Mark Rutte hatte die PVV 2010 bereits aufgewertet, als er sein erstes Minderheitskabinett durch Wilders tolerieren ließ. Dieser kündigte das nach nur zwei Jahren auf und galt danach zumindest als unzuverlässig.
Doch auch damit wurden seine rechtsextremen Positionen häppchenweise im Lauf der Jahre »normalisiert«, sodass sie 2023 zum »Wilders«-Standard gehörten. Beispiel: Wilders hat in seinem Wahlprogramm aufgeschrieben, dass die Niederlande kein islamisches Land seien, weshalb es »keine islamischen Schulen, Korane und Moscheen« geben dürfe. Das war eine deutliche Ansage zur Einschränkung der Religionsfreiheit. Was niemanden mehr überraschte. Im Jahr 2014 hatte er bereits bei einer Parteiveranstaltung damit geprahlt, er werde für »weniger Marokkaner« sorgen. Soll heißen, er werde Menschen, die zu einer bestimmten muslimischen Einwanderungsgruppe gehören, aus dem Land werfen. Tausende hatten ihn damals noch wegen Verhetzung angezeigt. In einem sechs Jahre dauernden Prozess wurde er am Ende im Jahre 2021 wegen Beleidigung einer Bevölkerungsgruppe verurteilt.
Allerdings hat wohl auch diese Verurteilung zur Normalisierung beigetragen. Wie Trump erzählt Wilders bis heute, er sei das Opfer einer politisierten Justiz. Die Verurteilung hat seiner Popularität – siehe Wahlergebnis im letzten Jahr – nicht geschadet, jedoch haben sich Normalitätsvorstellungen wieder ein Stück verschoben. Ein verurteilter Spitzenpolitiker? Kein Problem. Irgendwann gehörten Wilders grenzüberschreitende und anti-rechtsstaatliche Aussagen zur neuen Normalität: die Beleidigung von Frauen mit Kopftüchern, die Bezeichnung des Korans als »faschistisches Buch«, die Polemik über das kaputte Rechtssystem in den Niederlanden, die Erzählung vom Nepp-Parlament und die Forderung nach dem Entzug des Stimmrechts für Menschen mit doppelter Nationalität. Und wie alle Rechtspopulistïnnen hat Wilders immer vorgegeben, im Namen des »echten« Volkswillens zu sprechen. Einfache Lösungen für den einfachen, hart arbeitenden Niederländer. Mit deutlichen Ansagen, wer nicht dazugehört. Irgendwann sagte man nur noch: Wilders eben.
Jetzt ist aber angesichts der politischen Macht Wilders’ diese Verschiebung real bedrohlich. Das wurde vor wenigen Wochen deutlich, als am 7. Oktober in Amsterdam sowohl eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Hamas-Terroranschlags in Israel als auch eine Demonstration gegen den Krieg Israels in Gaza stattfand. An diesem Gedenktag eine Pro-Palästina-Demo zu veranstalten, war erkennbar als Provokation in Richtung der Menschen gemeint, die auf dem Dam der Opfer des Massakers der Hamas gedachten. Die Demos genehmigt hatte die Bürgermeisterin von Amsterdam, Femke Halsema. Sie hatte das mit dem Demonstrationsrecht begründet, aber darauf hingewiesen, dass es Grenzen gäbe. Deshalb ließ sie dann Teile der Pro-Palästina-Demo von der Polizei auflösen, als eine größere Gruppe versuchte, in die Nähe der Gedenkfeier zu kommen. Das heißt: Die Amsterdamer Bürgermeisterin musste eine schwierige, aber nicht ungewöhnliche Abwägung vornehmen, zwischen Demonstrationsrecht und der Gefahr einer Eskalation. Normale rechtsstaatliche Praxis, sollte man meinen.
Nicht für Geert Wilders. Weil ihm nicht passte, dass gerade an diesem Tag auch für Palästina und gegen Israel demonstriert wurde, twitterte er: »Het land uit met dat tuig en Halsema mag mee.« Übersetzt heißt das etwa: »Raus aus dem Land mit diesem Abschaum und Halsema kann mit.« Der Fraktionsvorsitzende der größten Regierungsfraktion hatte also dazu aufgerufen, Teilnehmerïnnen einer ihm nicht genehmen, aber genehmigten Demonstration des Landes zu verweisen. Das ist mit Blick auf Bürgerrechte und Meinungsfreiheit weit außerhalb des niederländischen Verfassungsrahmens. Und seine Haltung zu den Institutionen des Staates, in diesem Fall zum Amt der Bürgermeisterin von Amsterdam, untergräbt jegliche staatliche Autorität. Die Aufforderung, Halsema zusammen mit den Demonstrantïnnen rauszuschmeißen, ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, beschädigt den Rechtsstaat und dessen Institutionen. Darauf hatten auch viele Bürgermeister-Kollegïnnen von Halsema in Solidaritätsadressen hingewiesen.
Der Angriff Wilders’ galt aber neben dem Amt vor allem auch dem politischen Gegner. Die Groen-Links-Politikerin Halsema und der Sozialdemokrat und Oppositionsführer Frans Timmermans sind zentrale Hassfiguren für Wilders’ Anhang. Den politischen Gegner aus dem Land schmeißen? Damit ist nichts mehr übrig vom niederländischen Poldermodell, der bisherigen Normalitätsvorstellung, dass verschiedene Interessen so lange verhandelt werden, bis Kompromisse möglich sind. Feindschaft in der Politik könnte in diesem Sinne als sehr »unniederländisch« bezeichnet werden. Zumindest in der alten Welt.
Die Tragik für alle Demokratïnnen und Verteidigerïnnen des Rechtsstaates besteht nun darin, dass Wilders trotz seiner Radikalität in den letzten Jahren nie wirklich ausgegrenzt wurde. In Medien und Parlament wurde er als »normaler« Politiker behandelt. Der niederländische Journalist Tom-Jan Meeus hat in einem großartigen Essay Duidelijkheid (Klarheit) beschrieben, wie Wilders durch eine Strategie der permanenten Lancierung von grenzüberschreitenden und beleidigenden Aussagen die Aufmerksamkeit der Medien auf seine Themen lenken konnte. Und dennoch hielt sich in Politik und Medien immer noch die alte Polderkultur der Nichtausgrenzung. Das zeigte sich insbesondere während des Wahlkampfes im letzten Jahr. Da erlebte das Land geradezu ein »Kuschel-Comeback«, als Wilders sich strategisch mit Beleidigungen und radikalen Aussagen zurückhielt und plötzlich doch zur Familie zu gehören schien.
Er sei »milder« geworden, schrieben die Zeitungen. Und Ruttes Nachfolgerin als Parteivorsitzende, Dilan Yeşilgöz-Zegerius, schloss plötzlich im Wahlkampf eine Koalition mit ihm nicht mehr aus und etablierte ein neues und fatales Lagerdenken: hier die Linken unter Frans Timmermans, da ihre rechtsliberale Partei mit Wilders im Gepäck. Ihre Rechnung ging nicht auf, die Lager waren dadurch allerdings etabliert.
Nun ist Yeşilgöz-Zegerius – das Menetekel für CDU/CSU und die europäischen Konservativen – Juniorpartnerin in Wilders’ rechtem Kabinett und muss jeden Tag die absurden Aussagen seiner Minister rechtfertigen. Und Geert Wilders ist derjenige, der das niederländische Poldermodell zerstört und das Freund-Feind-Denken mit aller Macht und mit den Möglichkeiten einer Regierungspartei etabliert. Im Fall der Migrationspolitik wollte er eine Art Notstandsverordnung verabschieden lassen, um am Parlament vorbei regieren zu können. Das hat bis jetzt wegen des Widerstands eines Koalitionspartners nicht geklappt, aber auch dieser Gedanke ist ein Stück »normalisiert«.
Was passierte sonst noch nach seiner Forderung, Halsema wegen ihres rechtsstaatlichen Vorgehens aus dem Land zu werfen? Nichts.
Niemand aus der Opposition forderte nach dieser Entgleisung den Rücktritt von Wilders als Fraktionsvorsitzender. Keiner forderte die anderen Koalitionsparteien auf, die Koalition aufzukündigen. Keiner seiner Koalitionspartner erinnerte öffentlich daran, dass ein Politiker in Verantwortung sich nicht verantwortungslos verhalten könne. Auch »sein« Ministerpräsident Schoof distanzierte sich nicht deutlich.
Was zeigt: Wilders ist es gelungen, den Stil des rechtsradikalen Polit-Cholerikers aus der Opposition mit in die Regierung zu nehmen, ohne dafür mit Konsequenzen rechnen zu müssen. In den Tagen nach seinem Tweet war allerdings Bürgermeisterin Halsema mit Todesdrohungen konfrontiert. Auch das gehört zum »neuen Normal«.
MARTIN UNFRIED ist Politologe und arbeitet an der Universität
Maastricht.
Bei Redaktionsschluss des Magazins war nicht klar, inwieweit die Ausschreitungen in Amsterdam gegen israelische Fans des Fußballclubs Maccabi Tel Aviv die Lage weiter eskalieren.
10.12.2024 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 31 | Seite 52-55 | taz.futurzwei.org | Magazin für Politik und Zukunft | Titelthema: GEMEINSINN, was tun für die Anderen | Gesellschaft | »Raus mit diesem Abschaum« | Wie der rechtsextreme Geert Wilders mithilfe der Mitte-Rechts-Parteien das gerade noch Unnormale zum neuen Normal in den Niederlanden gemacht hat | Schlagwörter: Geert Wilders, politischen Debatte, Demokratie, "neues Normal", Niederlande | Bio: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Unfried
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