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14.03.2023 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 24 | Neue Bücher mit Zukunft | Buchbesprechung

Rezension: „Realpolitik aus der Räuberpistole“

Anders als Merkel und Steinmeier behaupten, waren ihre energiepolitischen Entscheidungen nicht nur aus heutiger Sicht falsch, sondern schon aus damaliger, sagt Claudia Kemfert

„Knapp sind die nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit.“ So zitiert die Energieökonomin Claudia Kemfert in ihrem neuen Buch den verstorbenen Hermann Scheer. Und tatsächlich durchziehen den Text häufig Gedanken, die der große Politik-Intellektuelle Scheer bereits vor mehr als zwanzig Jahren formuliert hatte. Als wesentlicher Merksatz: Die Energiewende kann nicht mit den fossilen Giganten funktionieren, sondern nur gegen sie. Diese kämpften mit harten Methoden um ihre Pfründe, weshalb die Energiewende in erster Linie nicht nur technischer Innovationen bedarf, sondern politischer Entscheidungen, die gezielt fossile Unternehmen und deren bestehende Monopole und Oligopole schwächten. Das ist das Gegenteil der deutschen Gazprom-Politik und des Abwürgens des Aufbaus von Wind und Sonne der letzten 15 Jahre durch Union und Scheers SPD.

Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Man merkt beim Lesen, wie erschüttert sie auf die deutsche Energiepolitik der Merkel-Jahre schaut. Wie kann es, beispielsweise, sein, dass die Energiekonzerne E.ON und RWE, die aktuell in der Krise immense Gewinne machen, vor Jahren mit Uniper eine Art fossile Bad Bank ausgelagert hatten, für deren Milliarden-Verluste heute der Staat aufkommt? Völlig verrückt. In diesem Sinne ist es für Kemfert auch ein therapeutisches Buch, um nochmals zu verarbeiten, warum trotz aller wissenschaftlicher Evidenz die CDU/SPD-Verantwortlichen Merkel, Steinmeier, Gabriel, Altmaier und Scholz nicht nur mutwillig die Macht der großen deutschen Energiekonzerne gesichert, sondern sich noch stärker an Russlands Gazprom gebunden hatten.

Anders als Merkel und Steinmeier behaupten, war es nicht so, dass die Entscheidungen aus heutiger Sicht wohl falsch seien, aus damaliger Sicht aber durchaus plausibel. Im Zentrum stand die Behauptung, dass Russland ein verlässlicher Lieferant sei. Kemfert belegt vielfach, dass diese Einschätzung auch damals durch keine wissenschaftliche Erkenntnis gedeckt war. Am meisten erschüttert die Wissenschaftlerin die blanke Ignoranz, mit der Abhängigkeiten ausgeblendet wurden. Wie konnte man Nord-Stream 1 und 2 als privatwirtschaftliche Initiativen deklarieren und die europäischen Partner brüskieren? Das Neue ist, dass Kemfert die genauen wirtschaftspolitischen Hintergründe benennt. Wer weiß schon, dass BASF Wintershall, E.ON Ruhrgas und Gasprom mit Unterstützung der Bundesregierung ein kompliziertes Firmengeflecht aufbauten? Beteiligungen an Gasfeldern für die Deutschen, das bisher deutsche Unternehmen Wingas (Gashandel) sowie Gasspeicher in Deutschland gingen an Gazprom. Dieser Deal hatte dazu geführt, dass Gazprom bei Kriegsbeginn 2022 knapp 25 Prozent der deutschen Gasspeicher kontrollierte. Auch das ist eben nicht nur aus heutiger Sicht: absolut verrückt!

Es ist auch schön, nochmals im Detail die Rollen der Verantwortlichen nachlesen zu können: Leute wie der frühere SPD-Vorsitzende und Ex-Dies-und-das-Minister Sigmar Gabriel, denen die Interessen der oben genannten Energiekonzerne wichtiger waren als europäische Solidarität und Sicherheit. Auch sehr erhellend, dass Deutschland mit den Nord-Stream-Pipelines auch sogenannte Take-or-Pay-Verträge abschloss. Das bedeutete günstiges Gas, allerdings mit jahrzehntelangen Laufzeiten und einer Zahlungsverpflichtung auch bei Nichtabnahme.

Und dann die Energiewende: Kemfert erklärt schlüssig, wie die Merkel-Regierungen die Energiewende nach 2013 aktiv sabotiert haben. Der politisch inkorrekteste Treppenwitz: die Strompreisbremse von Peter Altmaier könnte laut Kemfert als das teuerste Ablenkungsmanöver der deutschen Energiepolitik in die Geschichtsbücher eingehen. Diese hatte nach 2013 keinesfalls zu wesentlichen Einsparungen geführt, sondern zu erhöhten Erlösen der großen Konzerne. Dafür entstehen heute Milliarden an Kosten, weil die günstigen Erneuerbaren eine geringere Rolle spielten, als sie es bei ungebremstem Ausbau könnten.

Auch hier macht Claudia Kemfert klar, dass es keine Naturereignisse waren, sondern im Fall des Ausbremsens der Erneuerbaren politische Interventionen im Sinne der großen Konzerne. Peter Altmaier spielt hier eine besonders unrühmliche Rolle: 2013 hatte er behauptet, die Energiewende koste eine Billion Euro. Damit hatte er erfolgreich das mediale Framing der nächsten Jahre geschaffen, wonach die Erneuerbaren den braven Deutschen die Haare vom Kopf fressen würden. Auch hier entbehrte die Zahl jeder wissenschaftlichen Grundlage, wurden Kosten und Investitionen unzulässig vermischt. Claudia Kemfert fragt sich bis heute, wie es sein kann, dass Altmaier mit der damaligen Räuberpistole in den deutschen Medien wegkam. Das Problematische ist, dass sie aktuell ähnliche Medienreflexe konstatiert: Selbst heute noch würden ihre weitergehenden Vorschläge in Richtung Einsparung und Erneuerbare als unrealistisch abgetan, wobei der überdimensionierte LNG-Ausbau oder längere Laufzeiten als Realpolitik gelten. Alles wie gehabt: Eine ernsthafte Debatte sieht anders aus. ■

Claudia Kemfert: Schockwellen: Letzte Chance für sichere Energien - und Frieden.
Campus 2023, 310 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-593-51696-7

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MARTIN UNFRIED

14.03.2023 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 24 | Seite 70 | taz.futurzwei.org | Magazin für Politik und Zukunft | Neue Bücher mit Zukunft | Rezension | Realpolitik aus der Räuberpistole | Anders als Merkel und Steinmeier behaupten, waren ihre energiepolitischen Entscheidungen nicht nur aus heutiger Sicht falsch, sondern schon aus damaliger, sagt Claudia Kemfert | Schlagwörter: energiepolitischen Entscheidungen, Realpolitik, Energiepolitik, erneuerbare Energien | Bio: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Unfried

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