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Klimabilanz der taz

07.06.2011 | Dienstag | Ökosex

Lang lebe die Ökodiktatur!

DIE FREUNDE DER ATOMKRAFT ENTDECKEN IHRE ÄNGSTE - VOR KRETSCHMANN, FAHRRADTERROR UND BRUTALEN TEMPOLIMITS

 

Rätsel: Wer hat beim harmlosen Castortransport die Hosen voll? Und wer transpiriert beim kleinsten Restrisiko? Natürlich der emotionale Atomkraftgegner, dieser alte Hosenscheißer. So einfach sahen das bis vor kurzem auf jeden Fall die Freunde der Kernspaltung. Hysterisch waren immer die anderen. Gefühle? Dafür hatten unsere Verantwortungsethiker keine Zeit. Für Atom sein, das hieß eiskalte wirtschaftliche Vernunft und wissenschaftliche Risikoabschätzung. Da brauchte es Leute wie Wolfgang Clement, Oliver Bierhoff oder Jürgen Grossmann, den Chef von RWE.

Heute lesen wir, dass jene harten Jungs plötzlich Gefühle zeigen. Nach Fukushima sind auch sie in der Lage, in sich hineinzuhören. Sie fürchten sich gewaltig, weil Deutschland schrecklich bedroht ist. "RWE-Chef warnt Merkel vor Ökodiktatur." Diese Lachnummer habe ich bei Spiegel online gelesen. Grossmann frage sich, ob damit "der wirtschaftliche Erfolg generiert werden kann, der für wirtschaftliche Stabilität, möglicherweise sogar für unsere Demokratie nötig ist". Und so lautet die Kausalkette: ökologische Bedenken heißt Atomausstieg, heißt ausbleibender wirtschaftlicher Erfolg, heißt wiederum in Deutschland keine Demokratie. Das wirft Fragen auf: Ist eine politische Entscheidung gegen das Interesse von RWE bereits ein Putsch? Merkel also bereits eine Diktatorin? Noch interessanter: Arm und demokratisch, geht das gar nicht? Sie merken, das Gemoser ist so süß irrational, so heiter emotional, das ist German Angst pur! Das sollte von der Kasse als Therapie anerkannt werden.

Spaß beiseite: Diktatur ist bekanntlich die uneingeschränkte Herrschaft eines Einzelnen oder einer Clique, die nicht durch freie Wahlen legitimiert ist. Was eine Ökodiktatur ist, bleibt undeutlich. Da gibt es bei Wikipedia keinen Eintrag. Gott sei Dank haben ihre Propheten seit Jahren die Vorzeichen erklärt: brutale Tempolimits, übler Fahrradterror in der Innenstadt. Oder menschenverachtende Verordnungen, die Hausbesitzer zum Dämmen zwingen. Alles klassische Zeichen der Machtübernahme.

Bei faz.net hat der Wirtschaftsredakteur Winand von Petersdorff jüngst eine neue Variante beschrieben: die "herzliche Ökodiktatur". Die ist so richtig fies. Hinter dem freundlichen Gesicht von Kretschmann verstecke sich der Tyrann. Originalton: "Es wächst eine Ökotyrannei in Deutschland, sie stützt sich auf eine große Mehrheit. Und die Bundesregierung steht an der Spitze." Erfrischend crazy. Der Ton erinnert an Hardcore-Atomgegner. Auch die sahen im "Atomstaat" das Ende der Demokratie "as we know it".

Ganz groß in Mode kommt auch die Warnung vor dem "Tugendstaat" der Grünen, der seine Bürger ökomäßig zwangsbeglücken möchte. Jan Ross hat dazu in der Zeit ein hochemotionales Glanzstück geschrieben. Auch hier bricht die nackte, liberale Angst durch vor verlangsamtem Autofahren und beschleunigtem Atomausstieg. Davor, dass der Staat Solarstrom und Elektroautos als "Zukunftsprodukt" identifiziert und fördert. Das ist irgendwie berührend und spannend zugleich. Endlich lassen die Kollegen Gefühle zu.

Jungs, lasst es raus!

07.06.2011 | Dienstag | taz Nr. 9514 | Seite 14 | 107 Zeilen | tazzwei | KOLUMNE ÖKOSEX VON MARTIN UNFRIED

*) Die Grafik wird wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung von: Miro Poferl und Utopia

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