Mit dem Hörnchen durch die Nacht

Was ist grün, meistens recht hoch und gleitet immer öfter elegant über die Autobahn? Das ist mein überaus exzentrisches Hobby: Mit dem Flixbus durch Europa! Am liebsten durch die Nacht, wenn alle schlafen. Sind Sie schon mal mitgefahren? Viele meiner Bekannten noch nicht. Merkwürdigerweise wissen die genau, warum das nicht infrage kommen würde. Weil: zu unbequem, zu lang unterwegs, zu unzuverlässig, zu gefährlich.

Ich seufze dann mitleidig, trotz der bornierten Unwissenheit. Und dann hole ich aus und schwärme von meinen herrlichen Nachtfahrten nach Kopenhagen, Lyon, Venedig, Budapest und Prag. Von freundlichen und sanft lenkenden Chauffeuren, von sauberen Toiletten, interessanten Mitreisenden und herrlichen Sonnenaufgängen. Natürlich glaubt mir das niemand.

Wer es nicht weiß: Flixbus hat in Europa ein unglaubliches Netz von internationalen Verbindungen entwickelt, nach eigenen Angaben über 400.000 Fahrten täglich zu mehr als 3.000 Zielen in 35 europäischen Ländern. Was mich immer wieder verblüfft: Viele ökologisch gesinnte Menschen kennen diese wunderbare Alternative zu Auto und Flugzeug noch nicht. Und vor allem: Sie wissen auch nicht, dass diese Fernbusse besonders im internationalen Verkehr ein echte Alternative zur Bahn geworden sind.

Ein Beispiel: in Maastricht (NL) haben wir internationale Direktverbindungen auf der Schiene nach Aachen (DE) und Lüttich (BE). Das war’s. Eigentlich geht Fernreisen mit dem Zug nur mit viel Umsteigen. Das ist besonders mit dem Rad extrem anstrengend. Ich sage nur: Von Gleis 1 nach Gleis 6 mit Satteltaschen, und der Aufzug ist kaputt! Eben. Mit dem Fernbus geht es von Maastricht ohne Umsteigen nach Berlin, Brüssel, Frankfurt, London, Luxemburg, Mailand, Maribor, Paris, Prag, Warschau, Zagreb, Zürich und nach Slavonski Brod. Wahnsinn! Und was viele nicht wissen: Wer früh bucht, kann auch noch Fahrradplätze reservieren. Erzählen Sie es bitte nicht weiter, sonst wird es noch schwieriger, die wenigen Plätze zu ergattern.

So standen wir Ende Juli ganz entspannt um 0.45 Uhr an der „International Busstation“ in Karlsruhe, als der freundliche Busfahrer unsere Räder auf den Ständer schraubte, wir die Satteltaschen in den Gepäckraum legten und dann – direkt nach Lyon! Ohne Umsteigen! Ach, hab ich gut geschlafen. Liebhaber wissen: Dafür braucht es so ein lustiges rundes Hörnchen – ein professionelles Nackenkissen. Den Sitz kann man übrigens nach hinten klappen.

Seien Sie ehrlich: Mit sechs Leuten in einem muffigen Abteil im Liegewagen, das riecht auch nicht immer nach Rosengarten! Darum bin ich neulich auch dienstlich über Nacht von Eindhoven nach Kopenhagen geflixt. Das ging wie im Fluge, sogar mit inkludierter Schiffsreise von Puttgarten nach Rødby! Wenn ich davon schwärme, schütteln die Vielflieger und Nachtzug-Freund*innen verständnislos den Kopf.

Ich nenne es „Verkehrswende“: In kurzer Zeit konnten unglaublich viele Nachtverbindungen aufgebaut werden, die mit der Bahn in hundert Jahren niemals nicht kommen werden. Ganz ohne nationale oder europäische Strategien! Ganz ohne Lobby von uns Ökos! Und noch erstaunlicher: Ohne den Bau zusätzlicher Infrastruktur und Milliarden öffentlicher Investitionen. Mein Hörnchen hat übrigens 9,50 Euro gekostet.■

Martin Unfried forscht an der Uni Maastricht zu europäischer Politik in Grenzregionen. Er liebt Wärmepumpen, dynamische Strompreise, S-Pedelecs und seine Heimat, die Europäische Union.

Erstveröffentlichung: www.vcd.org/magazin-3-2025

https://oekotainment.eu/archiv/html/mit-dem-hoernchen-durch-die-nacht

https://oekotainment.eu/20250906a

PDF-Version der Erstveröffentlichung auf www.vcd.org

20250906fairkehrt3-2025.mit_dem_hoernchen_durch_die_nacht.3-2025_fairkehr_kolumne.txt

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Die vollständige Sammlung aller Beiträge von Martin Unfried finden Sie unter:
www.oekotainment.eu/archiv/pdf | www.oekotainment.eu/archiv/videos

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